Erklärung zur Situation in Afghanistan

17.08.2021
Kundschafter des 2.Battalion, 503rd Infantry Regiment (Airborne), auf Beobachtungsposten während der Operation Destined Strike, während eine andere Kompanie ein Dorf im Chowkay Tal durchsucht. Ein Bild der US Army von Afghanistan im August 2006. Foto: flickr, CC BY 2.0

Mit Schrecken blicken wir in diesen Tagen nach Afghanistan. Die Freude über den längst überfälligen Abzug der internationalen Truppen, den die Friedensbewegung seit so vielen Jahren gefordert hat, ist der Sorge um die vielen Menschen gewichen, die jetzt vor den Taliban zu fliehen versuchen und um ihr Leben fürchten. Zu ihnen gehören nicht nur diejenigen, die für das internationale Militär oder für andere staatliche Einrichtungen der Besatzer gearbeitet haben. Zu ihnen gehören auch viele Menschen aus der Zivilgesellschaft – besonders auch die Frauen, die nach dem Ende der Taliban-Herrschaft angefangen hatten, private und berufliche Freiheit für sich zu erobern. Menschen, die sich darauf verlassen hatten, dass der Wandel nachhaltig sein und nicht von heute auf morgen grundsätzlich infrage gestellt würde.

„Es muss deutlich gesagt werden: Der eigentliche Fehler – das eigentliche Verbrechen – war der Überfall auf Afghanistan 2001“, sagt Dr. Christine Schweitzer, die Geschäftsführerin des Bund für Soziale Verteidigung. „Er hat nicht nur über zwei Billionen US-Dollar[1] gekostet, sondern das Leiden der Menschen in Afghanistan verstärkt, Hass gesät und Konflikte unter den Volksgruppen Afghanistans weiter angeheizt. Was jetzt geschieht, ist die Ernte von zwanzig Jahren, in denen man meinte, Toleranz, Akzeptanz grundlegender Menschenrechte und Demokratie durch Gewehre und Drohnen erzwingen zu können.“ Gerechtfertigt wurde der Angriff auf Afghanistan 2001 durch die Attentate des 11. Septembers und die Behauptung der Geheimdienste, dass Bin Laden von der Taliban-Regierung unterstützt und versteckt werde. (In Klammern: Gefunden und ermordet wurde er von US-Truppen dann allerdings in Pakistan.) Der Preis war immens: Es wird geschätzt, dass zwischen 2001 und 2021 mindestens 38.000 Zivilist*innen in dem Krieg getötet wurden; eine andere Quelle spricht von 78.000. Wie viele afghanische Kombattanten auf Seiten der Taliban und anderer Milizen ums Leben kamen, wird nicht genannt; bei Polizei und Militär der afghanischen Regierung wird von jährlich 10.000 gesprochen; bei den internationalen Truppen gab es rund 3.000 Opfer insgesamt. [2]

Der Truppenabzug nach 20 Jahren war überfällig. Es war abzusehen, dass es die Taliban sein würden, die das entstehende Gewaltvakuum füllen würden. Über die Korruption in der Regierung und die schwankenden Loyalitäten bei den insbesondere auch von Deutschland mit immensem Aufwand[3] ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften wusste man doch schon seit Jahren. Hat man wirklich geglaubt, dass sie die Taliban militärisch in Schach würden halten können? Und, wenn über kurz oder lang sowieso von ihrer Niederlage ausgegangen wurde, warum hätten sie erst noch verlustreiche Kämpfe führen sollen?

Dass die Evakuierungen der sog. Ortsmitarbeiter und ihrer Familien so spät begann, ist ein Vorwurf an die Bundesregierung. „Einmal mehr scheint es, dass die deutsche Innenpolitik, insbesondere die Sorge unserer Politiker*innen vor einer neuen Welle von Geflüchteten, die Politik leitete. So hat man, als noch Zeit gewesen wäre, die Ausreise von denjenigen, die während der Besatzung für die Deutschen gearbeitet haben, verschleppt“, meint Schweitzer. „Jetzt haben diejenigen, die nicht in Kabul, sondern in einer der Provinzen leben, überhaupt keine Chance mehr, zu fliehen; und ob es denjenigen gelingt, die das Privileg haben, in Kabul zu sein, werden die nächsten Tage zeigen.“

Die Drohung von Außenminister Maas von letzter Woche, dass die deutsche Regierung Kabul die Mittel für den zivilen Wiederaufbau streichen werde, sofern die Taliban die Macht übernähmen, wirkt genauso hilflos wie unsinnig. Es geht hier nicht um Hilfe an die Taliban. (In Klammern: Sie haben indirekt schon genug Hilfe bekommen – viele Waffen gelangten von den westlichen Länder in ihre Hände, wie schon seit spätestens 2009 bekannt ist.[4]) Es geht um Hilfe für die Menschen in Afghanistan. Sie wird nicht dadurch weniger wichtig, dass jetzt eine neue Regierung das Sagen hat, so sehr man deren Politik und Ausrichtung auch ablehnen mag. Dass verschiedene internationale und deutsche Hilfswerke das Land nicht verlassen und anscheinend auch in den Regionen, die von den Taliban kontrolliert werden, weiter arbeiten können, ist hier eine ermutigende Information[5], ebenso wie das Weitersenden des TV-Senders TOLO-News. Angesichts der Herrschaft der Taliban vor 2001 ist es schwierig, Vertrauen in ihre Erklärungen zu haben, dass sie Kollaborateure mit den internationalen Truppen nicht verfolgen würden und dass alle Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens – ausdrücklich auch die weiblichen – ihre Arbeit weiter tun sollten. Aber sie sollten auch nicht unbesehen verworfen werden. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob den Worten auch Taten folgen. In der Zwischenzeit ist es wichtig, die Situation sorgfältig zu beobachten und Informationen gründlich zu prüfen, auch um Gerüchten oder bewussten Falschmeldungen, die lanciert werden könnten, entgegenzuwirken.

 

Für die deutsche Regierung sollte jetzt vorrangig sein:

  • Evakuierung und Aufnahme aller Menschen, die aus Afghanistan fliehen müssen.
  • Keine Abschiebungen nach Afghanistan und auch nicht, wie vom österreichischen Innenminister vorgeschlagen, in „Abschiebezentren in der Region rund um Afghanistan“.
  • Fortführung der humanitären Hilfe; kein Sanktionsregime, das Not und Elend im Lande vergrößern würde. Humanitäre Hilfe darf nicht für politische Zwecke missbraucht werden.
  • Keine neue Invasion von NATO- oder US-Truppen in Afghanistan.
  • Diplomatische Bemühungen und Unterstützung von Vermittlungsbemühungen der Länder, die  Einfluss auf die Taliban haben könnten – von Pakistan, der Türkei und Iran bis China und Russland.
  • Aus den Fehlern des Afghanistankrieges lernen und die anderen internationalen Kampfeinsätze der Bundeswehr beenden.
 

[2] https://www.france24.com/en/live-news/20210706-the-war-in-afghanistan-by.... https://watson.brown.edu/costsofwar/costs/human/civilians/afghan spricht von 78.000. Die Zahl des afghanischen Militärs stammt von Winfried Nachtwei (ARD-Brennpunkt).

[3] Allein 80 Milliarden gaben die USA für die Ausbildung aus, siehe Foreign Policy vom 16.8.21.

[5]Siehe die Interviews mit Stefan Recker von Caritas International in Kabul, die in den vergangenen beiden Tagen publiziert wurden, zum Beispiel: https://www.domradio.de/themen/caritas/2021-08-16/wir-arbeiten-ja-nicht-... . Auch Ärzte ohne Grenzen bleiben laut einer Meldung von ap vom 16.8. im Lande.

 

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