Geschichte und Gegenwart von Belarus

Der Eigenname „Belarus“, häufig auch „Weißrussland“, leitet sich trotz des häufigen Missverständnisses nicht von Russland ab. Die Kiewer Rus, das erste slawische Großreich um das 10. Jh. n. Chr., gilt stattdessen als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Belarus, Russland und Ukraine. Das Adjektiv bely wurde mit „weiß“ übersetzt, bedeutete im Mittelalter jedoch auch „westlich“. Belarus kann daher sinngemäß mit das „Westliche Rus“ übersetzt werden. Hier geben wir einen Überblick über die Geschichte von Belarus.

Mit dem Niedergang der Kiewer Rus, der durch die mongolische Invasion um das 13. Jh. nur beschleunigt wurde, bildete sich ein Machtvakuum in der Region um Weißrussland. Das Großfürstentum Litauen konsolidierte sich und konnte sich 1362 bei einer entscheidenden Schlacht gegen die Goldene Horde durchsetzen, wodurch es in Kiew einmarschieren und somit Weißrussland, Ukraine und Westrussland erobern konnte.

Obwohl Weißrussland Teil des Großfürstentums Litauen war, erlebte es im 14. und 15. Jahrhundert ein goldenes Zeitalter, in welchem Kultur, Wirtschaft und die altostslawische Sprache aufblühten. Mit Beginn der polnisch-litauischen Union richtete sich das gesamte Staatsgebilde gen Westen und löste somit Weißrussland von russischen Einflüssen. Die weißrussische Sprache blieb bis zum Ende des 17. Jh. Amtssprache, jedoch wurde der Adel schrittweise polonisiert und wandte sich vom christlich orthodoxen zum katholischen Glauben.

Ende des 18. Jahrhunderts begannen die Teilungen des Doppelstaats Polen-Litauen zwischen Russland, Preußen und Österreich, wodurch das Gebiet Weißrusslands von Russland annektiert wurde. Unter der Herrschaft des Russischen Zarenreichs wurden die neuen Gebiete Russifizierungsversuchen ausgesetzt. Der größtenteils polnische Adel wurde entmachtet, die weißrussische Sprache verboten und die katholische Kirche verdrängt. Maßgebend für ein weißrussisches Unabhängigkeits- und eigenes Identitätsverständnis waren die Januaraufstände von 1863/1864, an der sich prominente weißrussische Unabhängigkeitspersönlichkeiten wie Kastus Kalinouski und Poeten wie Franzischak Bahuschewitsch beteiligten. Jedoch wurden die Aufstände aufgrund mangelnder Unterstützung der breiteren weißrussischen Bevölkerung vom Zarenreich niedergeschlagen.

Nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkriegs wurde die „Weißrussische Volksrepublik“ von der Weißrussischen Sozialistischen Teilrepublik, unter Führung Sowjetrusslands, bis 1919 abgesetzt. Vertreter*innen der Weißrussischen Volksrepublik sind bis heute aktiv und stellen damit die älteste Exilregierung der Welt. Die weißrussischen Gebiete wurden erneut zwischen Polen und den russischen Bolschewiken aufgeteilt.

In der Zwischenkriegszeit wurde auf dem polnisch-kontrolliertem Gebiet Weißrusslands wieder versucht, die Bevölkerung zu polonisieren, während in der Sowjetunion zunächst große soziale und kulturelle Autonomie herrschte. Frühe Staatsfeinde waren jedoch religiöse Institutionen und Persönlichkeiten, und unter Stalin weiteten sich Repressalien auf die Intelligenzia und Grundbesitzer*innen aus. Durch den Molotov-Ribbentrop-Pakt und der Teilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion 1939 fielen die weißrussischen Gebiete wieder vollständig unter die Kontrolle Moskaus, wobei nun auch Städte, in denen polnische und jüdische Menschen die Mehrheit bildeten, Teil der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurden. Vor dem Einfall Deutschlands in die Sowjetunion wurden abermals zahlreiche „Volksfeinde“ wie polnische Adelige, polnische und jüdische Unternehmer*Innen, weißrussische Intelligenzler und Geistliche nach Sibirien und Kasachstan deportiert.

1941 eroberte die deutsche Wehrmacht das Gebiet binnen zwei Wochen. Die Rote Armee evakuierte während des Einmarsches rund 20% der weißrussischen Bevölkerung nach Russland und verfolgte eine Taktik der Verbrannten Erde. Unter deutscher Besatzung erfuhr das weißrussische Gebiet immense Zerstörung im Rahmen des Vernichtungskriegs. Mehr als 200 Städte und 9000 Dörfer wurden zerstört. Allein in Minsk wurden 100.000 Einwohner*Innen ermordet. Etwa acht bis neun Prozent aller umgebrachten europäischen Juden und Jüdinnen stammten aus Weißrussland. 25 Prozent der weißrussischen Bevölkerung starben. Die Industriebetriebe gingen um 85 Prozent, die Industriekapazität um 95 Prozent, die Saatfläche um 40 bis 50 Prozent und der Viehbestand um 80 Prozent zurück. Weiterhin wurde nach dem Krieg ein Großteil der ethnischen Polen (etwa 300.000) in die Polen zugeschlagenen deutschen Ostgebiete zwangsumgesiedelt. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Weißrussland zehn Millionen Menschen. Erst gegen Ende der 1980er-Jahre hatte die Bevölkerungszahl Weißrusslands wieder den Vorkriegsstand erreicht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Phase des Wiederaufbaus, wobei viele Menschen russischer Abstammung als Fachkräfte in Weißrussland angesiedelten wurden. Einerseits entwickelte sich die Weißrussische SSR damit zu einem produktiven Industriezentrum in der Sowjetunion, andererseits wurde dadurch die weißrussische Sprache institutionell benachteiligt. Die Weißrussische SSR war neben der Ukrainischen SSR und der Sowjetunion Gründungsmitglied der Vereinten Nationen. Während des Kalten Kriegs war es ein strategisch bedeutendes Land für die Militärbereitschaft der Sowjetunion. Nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau deklariert der Oberste Sowjet der Republik Weißrussland ihre politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Staates Belarus am 25. August 1991.

Frühe wirtschaftliche Reformen scheiterten und das junge Land geriet schnell in eine Krise, da es von den wirtschaftlichen Strukturen der Sowjetzeit abhängig war und mit einer Hyper-Inflation kämpfte. 1994 wurde eine neue Verfassung mit einer Umwandlung in ein Präsidialsystem eingeführt und in der darauffolgenden Präsidentschaftswahl setzte sich Alexander Lukaschenko gegen seine Opposition durch. Lukaschenko mobilisierte breite Unterstützung in der Bevölkerung mit Hilfe von sowjetnostalgischem Populismus.

Seitdem hebelte Lukaschenko schrittweise die Gewaltenteilung im Land aus, ließ sich trotz Verfassungswidrigkeit immer wieder im Amt des Präsidenten bestätigen und verfolgte oppositionelle Politiker*Innen sowie Aktivist*Innen. Die Presse- und Meinungsfreiheit wurde eingeschränkt und breite Teile der Wirtschaft blieben unter staatlicher Kontrolle. Außenpolitisch gab es mehrere Versuche Lukaschenkos, eine Russisch-Weißrussische Union zu gründen und er pflegt grundsätzlich eine bessere Beziehung zu Russland, Nordkorea, Venezuela, Iran, Sudan und China als zu westlichen Staaten.

Belarus wird häufig als die „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet, in dem das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen und Demokratieverstöße so groß wie in kaum einem anderen Land sind. Die Zukunft des Landes ist ungewiss. Bereits 2010 kam es zu Protesten bei der Bevölkerung gegen die Wiederwahl Lukaschenkos, welche jedoch von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Als Reaktion auf die COVID-19 Pandemie im Frühjahr 2020 riet Lukaschenko seine Bürger*innen zu regulären Saunagängen, Alkoholverzehr und Traktorfahrten zur Bekämpfung des Virus. Aufgrund mangelnder staatlicher Vorkehrungen zur Bekämpfung der Pandemie brachen in Belarus 2020, kurz vor der Präsidentschaftswahl am 9. August, abermals Proteste aus. Demonstrierende und potenzielle Gegenkandidaten wurden verhaftet. Trotzdem gibt es weiterhin Hoffnung auf eine friedliche Lösung und einen gewaltlosen Machtwechsel.